Am 1. Oktober 2022 ist das Gesetz zur Erhöhung des Schutzes durch den gesetzlichen Mindestlohn in Kraft getreten (BGBl I 2022, 974). In der betrieblichen Praxis hat dieses Gesetz u.a. auch Auswirkungen auf die Abrufarbeit. Was ist Abrufarbeit? Arbeitgeber und Arbeitnehmer können vereinbaren, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat. Es liegt dann "Arbeit auf Abruf" vor.
Was passiert, wenn die Arbeitsvertragsparteien die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit bei einer solchen Vereinbarung nicht festlegen? In der Praxis kommt es häufig vor, dass keine bestimmte Dauer der wöchentlichen oder täglichen Arbeitszeit bei der Vereinbarung von Abrufarbeit festgelegt wird. Die Regelungslücke wird i.d.R. bewusst gewählt. Sie soll einen Spielraum zulassen. Der Arbeitgeber soll – bei genügend Arbeit – den Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung einteilen. Ist nicht genügend Arbeit da, wird der Arbeitnehmer nicht abgerufen.
Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer Arbeit auf Abruf, legen aber die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht fest, findet § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG Anwendung. Dann gilt eine Arbeitszeit von 20 Stunden wöchentlich als vereinbart. Das Gesetz schließt also diese Regelungslücke, indem kraft Gesetzes eine Arbeitszeit von 20 Wochenstunden als vereinbart gilt.
Eine davon abweichende, andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit können die Parteien in der Folge allerdings vereinbaren, in dem Sie eine ausdrückliche Regelung treffen oder eine konkludente Regelung schaffen. Für die konkludente Regelung reicht aber allein das Abrufverhalten des Arbeitgebers in einem bestimmten, lange nach dem Beginn des Arbeitsverhältnisses liegenden und scheinbar willkürlich gegriffenen Zeitraums nicht aus (so BAG, Urteil vom 18. Oktober 2023 – 5 AZR 22/23). Allein das Abrufverhalten des Arbeitgebers schafft noch keine neue rechtsgeschäftliche Erklärung dahingehend, der Arbeitgeber wolle in der Höhe des zuletzt getätigten Arbeitsabrufs für alle Zukunft eine abweichende und höhere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbaren. Gleiches gilt für die Bereitschaft des Arbeitnehmers, wenn er in einem bestimmten Zeitraum mehr Arbeitsleistung erbringt, als er eigentlich schuldet. Auch hieraus kann nicht die Annahme abgeleitet werden, der Arbeitnehmer wolle sich dauerhaft in einem höheren zeitlichen Umfang als 20 Stunden binden.
Wichtig ist, dass die Änderungen zur Höhe des Mindestlohns Auswirkungen auf die Abrufarbeit haben. Ist eine individuelle Arbeitszeit aufgrund der Regelungslücke von 20 Stunden/Woche anzunehmen, beträgt die Vergütung € 1.040,00 brutto. Das Beschäftigungsverhältnis kann dann nicht mehr als geringfügige Beschäftigung behandelt werden kann (vgl. Gaul, Aktuelles Arbeitsrecht, Band 2/2022, S. 339).